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Für mehr Solidarität und Freiheit – deshalb Nein zum Grundeinkommen!

Viele Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens sehen dieses als einen notwendigen Schritt, um mehr Raum für Solidarität und Freiheit zu schaffen. Zwei Argumente, warum dem nicht so ist.

Fionn Meier, März 2016

«Die Befreiung der Schweiz» – so lautet der mit goldenen Lettern auf strahlend weissem Hintergrund geschriebene Titel eines kleinen Buches, welches der Schweiz den Weg in eine bessere Zukunft weisen will.[1] Das Losungswort dieses Buches lautet: bedingungsloses Grundeinkommen. Jeder soll, bedingungslos, ein Einkommen vom Staat ausbezahlt bekommen. Dieses soll ihm ein Leben in Würde ermöglichen, ohne dass er zu arbeiten braucht. Jeder wäre dadurch frei einer Tätigkeit nachzugehen, die seinem Innersten entspricht. Auf dieser Grundlage würde sich dann ein freies und lebendiges Kulturleben entwickeln, das Interesse an den Mitmenschen wachsen und eine solidarische Gemeinschaft entstehen. Eine echte gelebte Schweizer Demokratie, in der sich in Tellscher Manier der Schweizer Freiheitskämpfer endlich vom Joch des Arbeitszwangs befreit hätte. Wir hätten es endlich geschafft! – so zumindest die Botschaft dieses kleinen Buches, welches damit auch die Ansicht vieler Grundeinkommensbefürworter wiedergibt. Doch ist dem wirklich so?

Keine Frage, mehr Solidarität und mehr Freiheit sind erstrebenswerte Ideale. Trotz allem Fortschritt im Bereich der Naturwissenschaft und der Technik hat unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht noch sehr vieles zu lernen. Die ethischen Impulse früherer Zeiten haben ihre Wirksamkeit verloren. Viele Menschen haben einen Narzissmus entwickelt, welcher in einigen Fällen schon beinahe autistische Züge annimmt. Man interessiert sich hauptsächlich für sich selbst, sein Aussehen, seine Gefühle und Vorstellungen. Immer weniger werden die Bedürfnisse der Mitmenschen berücksichtigt. Eine Entwicklung, die nicht zuletzt auch durch die heute weit verbreitete Vorstellung unterstützt wird, dass die Wirtschaft dann am besten funktioniert, wenn jeder nur für sich selber schaut.

Zudem ist in unserer von der industriellen Revolution und den Finanzmärkten geprägten Gesellschaft gegenwärtig nur sehr wenig Raum vorhanden, das Individuelle wirklich zur Geltung zu bringen. Die meiste Arbeit ist mechanisch und monoton und durch die stetige Ausweitung der Finanzmärkte ist der Freiheitsraum der Unternehmer immer kleiner geworden. Der Unternehmer muss sich immer mehr den reinen Gewinnforderungen der Finanzmärkte anpassen und kann immer weniger seinen eigenen Intuitionen folgen. Die Folge ist, dass sowohl die Arbeiter wie auch die Unternehmer ihre Eigeninitiative mehr und mehr verlieren und nur das machen, was vom System von ihnen gefordert wird.

Passivität und Narzissmus. Es ist wohl nicht übertrieben, dies als zwei wesentliche Merkmale unserer heutigen Gesellschaft zu bezeichnen. Das Grundeinkommen verspricht hier einen Ausweg zu bieten: Dadurch, dass wir allen Menschen bedingungslos­ ein Einkommen zusprechen, lernen wir auch an die anderen Menschen zu denken und solidarisch zu sein. Dadurch, dass wir alle ein gesichertes Einkommen haben, ist uns überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, aus der Passivität herauszukommen und uns im Gebrauch der Freiheit (und der damit verbundenen Selbstverantwortung) zu üben. Dieser Ansicht wird hier entgegnet mit: Zweimal Nein!

Erstens. Solidarität lässt sich nicht per Gesetz verordnen. Sie muss immer wieder neu und individuell gewollt werden. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass neben den eigenen auch die fremden Bedürfnisse mitberücksichtigt werden. Zum Beispiel: Berücksichtigt jemand beim Kauf eines Produkts nur seine eigene Bedürfnisse, bezahlt er einen möglichst geringen Preis. Er handelt egoistisch und gibt unter Umständen dem Produzenten weniger, als dieser braucht, um ein Leben in Würde zu führen. Erkennt der Käufer jedoch die Abhängigkeit des Produzenten von ihm, und nimmt er sich deswegen vor, bei jedem Einkauf darauf zu achten, dass er einen solchen Preis bezahlt, der es dem Produzenten ermöglicht in Würde zu leben, bis er das nächste Produkt zum Verkauf hergestellt hat, verlässt er seine egoistische Sichtweise. Er nimmt neben seinen eigenen Bedürfnissen zugleich auch diejenigen des Produzenten wahr, für deren Befriedigung er sich mitverantwortlich weiss.[2] Die arbeitsteilige Wirtschaftsform erweist sich für ihn nun plötzlich als ein ideales Übungsfeld, in dem er seine Solidarität tagtäglich neu üben kann.

Die zentrale Bedeutung des individuellen Verantwortungsgefühls den Mitmenschen gegenüber hat schon Wilhelm von Humboldt erkannt. In seinem Buch «Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates» schrieb er folgendes: „Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hilfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zu gegenseitiger Hilfsleistung träger. Wenigstens muss die gemeinschaftliche Hilfe da am tätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass auf ihm allein alles beruhe, und die Erfahrung zeigt auch, dass gedrückte, gleichsam von der Regierung verlassene Teile eines Volks immer doppelt fest untereinander verbunden sind.“ Hier ist im Kern aufgezeigt, welche Bedeutung der arbeitsteiligen Wirtschaftsform für die Entwicklung einer neuen Mitmenschlichkeit zukommt. Je mehr die Arbeitsteilung fortschreitet, desto mehr sind die Menschen voneinander abhängig. Die gegenseitige Abhängigkeit und die dadurch gegenseitig vorhandene Verantwortung, an denen die Menschen aufwachen und ein neuer Impuls für individuell gewollte Solidarität entstehen könnte, würde jedoch durch ein bedingungsloses Grundeinkommen an Wirksamkeit verlieren: Der andere hat schon genug zum Leben, es kommt auf mich nicht mehr darauf an.

Zweitens. Freiheit ist keine Frage des Einkommens, sondern eine Frage des Kapitals. Einkommen brauchen wir, um unsere leiblichen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Die gegenseitige Gewährleistung der Befriedigung dieser Bedürfnisse ist jedoch keine Frage der Freiheit, sondern eine Frage der Solidarität. Freiheit befindet sich dort, wo wir unsere individuellen Ideen und Fähigkeiten praktisch umsetzen können. Hierzu ist nicht das Einkommen der entscheidende Faktor, sondern der Zugang und die freie Verfügung über das dazu erforderliche Kapital. Dies ist der eigentliche Angelpunkt zur Entwicklung von mehr Freiheit.

Die freie Verfügung des Unternehmers über das von ihm verwendete Kapital ist durch die heute übliche Finanzierung immer seltener geworden. Ein Unternehmer arbeitet heute in der Regel mit von Aktionären bereit gestelltem Kapital. In unserem heutigen von den Römern übernommenen Rechtssystem bestimmen die Kapitalgeber über die Verwendung des Kapitals. Dem Unternehmer sind dadurch die Hände gebunden. Obwohl er derjenige ist, der mit seinen Ideen und Fähigkeiten mit dem Kapital verbunden ist, hat er das Kapital nicht zur freien Verfügung. Er muss für die Interessen der Kapitalgeber arbeiten, die in der Regel am Unternehmen selbst kein Interesse haben, sondern nur an deren Gewinn. Um den Menschen mit Fähigkeiten und Ideen mehr Freiraum und Selbstverantwortung zu ermöglichen, braucht es daher Wege und Möglichkeiten, die freie Verfügung über das Kapital von deren Besitz zu trennen. Zum Beispiel eine neue Art von Aktiengesellschaft, die durch juristische und finanzielle Innovationen die Entscheidungshoheit über das verwendete Kapital von den Kapitalgebern zu dem Unternehmer transferiert.

Dies könnte zum Beispiel dadurch geschehen, dass die Rolle des Mehrheitsaktionärs einem kleinen Verein überantwortet wird, welcher die Initiative des Unternehmers an den Generalversammlungen jeweils gutheisst. Durch eine solche Veränderung würde die freie Verfügung über das Kapital von dem Besitz desselben getrennt und so dem Unternehmer die Möglichkeit gegeben, in eigener Verantwortung seine Ideen und Fähigkeiten in die Praxis umzusetzen. Über das Leben und die Entwicklung eines in solcher Art organisierten Betriebes entschiede dann der Unternehmer und nicht die Kapitalgeber. Veränderungen in diese Richtung sind heute notwendig, um in unserer heute mehr und mehr von den rein wirtschaftlichen Interessen der Finanzmärkte gesteuerten Gesellschaft einen Freiraum zu eröffnen, wo echte Initiative und Verantwortung stattfinden kann.[3]

Die Idee des Grundeinkommens verkennt die zwei eigentlichen Wege zu mehr Freiheit und Solidarität und bietet stattdessen eine Scheinlösung an. Und darin liegt auch ihre Gefahr. Anstatt an der arbeitsteiligen Wirtschaft den Impuls zu entwickeln, eine Solidarität auszubilden, die auf individueller Anteilnahme an den Bedürfnissen der Mitmenschen beruht, wird ein Mechanismus gesetzt. Jeder hat sein Brot, unabhängig von dem Verhalten der anderen. Zudem degradiert das Grundeinkommen die Idee der Freiheit zur Einkommensfrage. Doch ohne die entsprechende freie Verfügung von Kapital ist die angebliche Freiheit kaum mehr als ein Spiel. Man denkt, man sei selbst aktiv und initiativ, doch werden die Regeln und die Richtung, wie im Spiel, von den Kapitalmärkten vorgegeben. Eine Scheinsolidarität und eine Scheinfreiheit werden geschaffen, welche die Menschen mit grosser Wahrscheinlichkeit daran hindern werden, die Wege zu wirklicher Solidarität und Freiheit aufzusuchen. Ein Grundeinkommen ist daher nicht besser als »Nichts«, sondern eine Fata Morgana von Fortschritt, der unserer Gesellschaft vorgespiegelt wird, aber in Wirklichkeit die bestehenden Verhältnisse zementiert. Anstelle der eigentlichen Herausforderungen, der Entwicklung von individuell gelebter Solidarität und der Überwindung des römischen Eigentumsbegriffs des Kapitals, tritt – Panem et Circenses.

Erschienen in DAS GOETHEANUM, Ausgabe Nr. 22, 27. Mai 2016.


[1] Müller, C. und Straub, D. (2012) Die Befreiung der Schweiz. Zürich: Limmat Verlag

[2] Die Idee, die Preise an den zukünftigen Bedürfnissen der Produzenten auszurichten, stammt ursprünglich von dem Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Steiner (1861-1925). Er bezeichnete diesen Preis als „richtiger Preis“ und umschrieb ihn wie folgt: „Ein richtiger Preis ist dann vorhanden, wenn jemand für ein Erzeugnis, das er verfertigt hat, so viel als Gegenwert bekommt, dass er seine Bedürfnisse, die Summe seiner Bedürfnisse, worin natürlich eingeschlossen sind die Bedürfnisse derjenigen, die zu ihm gehören, befriedigen kann so lange, bis er wiederum ein gleiches Produkt verfertigt haben wird“ (Nationalökonomischer Kurs, 6. Vortrag).

[3] Erste Bestrebungen, um Betriebe dieser Art ins Leben zu rufen, sind schon vorhanden. Ein Beispiel ist der 1979 gegründete Hotel- und Bauernhofbetrieb L’Aubier in Neuchâtel und Montezillon.